Es begann damit, dass ich vor meinen Lippenstiften saß und überlegte, welchen ich heute benutzen wollte. Den nicht, den auch nicht, den trage ich doch immer… Ich wählte einen meiner älteren Lippenstifte in einem leicht kühlen Rot:

Ich hatte gerade beschlossen, ein zweites No-Buy-Jahr zu machen (dazu bald mehr hier), und ich schaute auf meine Lippenstifte. Ich versuchte, sie zu zählen: 86. Ich zählte nochmal: 85. 89. 87. Ich verzählte mich jedes Mal – das kann schon mal passieren, bei der Menge.
Es waren jedenfalls zu viele. Und so viele, die ich eigentlich nie trage. Die ich nur besitze wegen ihrer Verheißung: Trag mich, und du bist schön, trag mich, und du siehst stark aus. Trag mich, und du machst ein Statement. Trag mich, dann bist du mutig. Trag mich und zeig es allen. Trag mich und sei süß. Trag mich, damit du dich stark fühlst.
Trag mich, und du bist besser als ohne mich.
So ein Scheiß, dachte ich. Ich trage die meisten meiner Lippenstifte nicht, weil es gerade gar keinen Anlass dazu gibt. Jetzt gerade ist Corona. Davor schon hatte ich ein Kind und eigentlich nie genug Zeit zum Weggehen. Aber mal ehrlich, mehr als 80 Lippenstifte sind auch nicht dazu da, getragen zu werden. Ich habe sie damals gekauft, weil jeder von ihnen mir etwas versprochen hat. Mal war es mehr Mut, mal mehr Schönheit. Oft war es mehr Erfolg, mehr Zeit, mehr Selbstliebe. Gehalten hat bisher kein Lippenstift irgendetwas davon.

Ich war in der Zeit, in denen sich die Lippenstifte bei mir angesammelt haben, auf das große Versprechen des Kapitalismus hereingefallen: dass der Erwerb eines Gegenstandes mich verwandeln könnte. Dass ich Dinge nur besitzen muss, um schon etwas erreicht zu haben. Und dass ich mehr erreichen kann, indem ich mehr besitze.
Natürlich stimmt das nicht. Ich kann mir tausend fancy Stifte kaufen, und jeder ist irgendwie anders und cool und besonders und einzigartig, und damit kann ich wild vor mich hinkritzeln. Wenn ich aber nicht hart an den Dingen arbeite die mir Probleme bereiten, verbessere ich mich trotzdem kaum. Der bloße Besitz macht aus mir nicht mehr, sondern letztlich weniger: Ich mache mich Abhängig von Dingen, von magischen Amuletten, die mir den Weg zeigen zur vermeintlichen Erleuchtung. Und funktioniert das eine Amulett nicht, na dann kaufe ich eben ein neues!

Stil, Erfolg, Mut und Schönheit kann ich mir nicht kaufen. Das weiß ich schon seit meinem letzten No-Buy-Jahr. Oder besser: mein logisch arbeitender Verstand weiß das. Es ist leider so, dass ich es in diesen stressigen Zeiten nur halb schaffe, rationale Entscheidungen zu treffen und dass sich oft ich sage mal niedere Bedürfnisse Bahn brechen und eventuell ungesunde Ventile suchen, weil ich gerade nicht so die Kapazitäten habe, mein Verhalten zu 100% zu durchleuchten und zu kontrollieren. So geht es vermutlich gerade vielen: Der Mental Load während einer Pandemie ist enorm. Das soll keine Entschuldigung, kann aber eine Erklärung sein, warum ich meinen eigenen Maßstäben gerade nicht so ganz gerecht werden kann.

Was also tun? Klar, mein neues No-Buy-Jahr wird helfen, keine Frage. Aber ich kann noch etwas anderes machen: Ich kann jeden dieser Lippenstifte, die ich erworben habe, ein Mal tragen und dabei beobachten, was das mit mir macht. Eine Art Abschiedsrunde für den Überfluss, den ich sonst nie benutze.

Live verfolgen kann das wer mag auf Instagram oder Mastodon unter dem Hashtag #everyLipstick. Ich beobachte mich derweil und werde beizeiten berichten.